Der Spinat war durch die Hitze etwas zusammengefallen. Unter den lavarot glühenden Spiralen des Salamanders, hatte sich die Sauce Hollandaise Blasen schlagend goldgelb verfärbt und durch das emulgierte Butter-Eigelb eine herrliche Kruste gebildet. Schwaden von kross gebratenem Bacon umhüllten seine Nase und krochen von da seinen Rachen hinab in Richtung Gaumen. Ein Hauch von Essig kitzelte ihn. Eine dünne Pfütze des Poschierfonds hatte sich am Rand des Brioches auf dem Teller gesammelt, der von den wachsweichen Eiern gelaufen war, die unter der dicken Schicht Hollandaise sehnsuchtsvoll darauf warteten, mit der Gabel zerborsten zu werden, um eine geschmackliche und konsistenziell symbiotische Verbindung mit ihren sie umgebenden Komponenten einzugehen. “Das wärmste Jäckchen ist doch immer noch ein CognJäckchen“ hatte es aus dem Kellner vulgiert, als er Paul seinen Teller servierte, und ein weiterer Gast im selben Moment, in Mütze, Schal und Pelzkragen gehüllt, den Gastraum betrat. Der Ober wünschte ihm einen guten Appetit, und war auch schon wieder aus der Szene entschwunden und hinter den Tresen gepoltert, noch ohne das Paul ihm hätte etwas darauf erwidern können. Eine Vielzahl von Servierenden schob sich mit Speisen und Getränken durch das Lokal. Schwere Stiefel krachten über den hellen Parkettboden, Kaffeearomen, vermischten sich mit denen von geräuchertem Fisch, frisch gebackenem Brot und raumtemperierten, rotgeschmiertem Weichkäse.
Von all dem ließ sich Paul, während er vor seinem Teller mit den Benediktiner Eiern saß, jedoch nicht stören. Nicht von dem Gedanken abbringen, endlich hineinzustechen, in diese kulinarische Poesie, in diese orchestrierte Geschmackssinfonie, um es sich warm in seinen danach lechzenden Mundraum zu führen.
“Ja, bitte?”
Das andere Ende der Leitung hatte freundlich gegrüßt. Die Nummer auf Pauls Display war mit einer heimatlichen Vorwahl versehen. Wahrscheinlich war deshalb sein Daumen fast wie von selbst, mit dem grünen Hörer nach rechts geswipet, gerade als er im Begriff war, dieses störende Mistding für den restlichen Tag zu muten.

Den Namen des Anrufers hatte er akustisch nicht verstanden, ebenso wenig das Haus, für das er sprach. Doch die Fähigkeit, eine freundliche und verständliche Begrüßungsformel über die Lippen zu bringen, gehörte schon lange nicht mehr zu gefragten Kompetenzen.
Eine junge Blondine flog ihm in der Restauranttür beinahe in die Arme, als er zum telefonieren hinaustrat. Süßliche Vanillenoten entströmte ihrem dünnen Hals und legten sich schwer auf seine Zunge.
Die beißend kalte Luft, die er durch seine Lippen sog, befreite die Papillen vom billigen Parfüm. Ein Bus schob sich auf der Straße vor dem Restaurant einem tattrigen Radfahrer hinterher und Passanten sprangen in den letzten Atemzügen des grünen Ampelmännchens noch auf den vor Kälte grauen Asphalt.
Das Gesicht der rauen Fassade des Hauses zugewandt, den Zeigefinger im Ohr, versuchte Paul, das Telefonat aufzunehmen.
„So, jetzt geht’s besser, denke ich, wie kann ich helfen?“
Der Anrufer brabbelte von neuem los und es brauchte einen Moment, bis er das schwer verständliche Kauderwelsch und die Vorwahl des Anrufers zu etwas Logischem zusammenführen konnte. 

Tags zuvor hatte Paul noch mit seinem Vater gesprochen und sich für die darauffolgende Woche Freitag angekündigt.
Er lag bereits im Krankenhaus, als sie am Nachmittag miteinander telefoniert hatten. Ob er es noch schaffe, hatte Paul ihn spaßeshalber gefragt. Zumindest bis nächste Woche.

Das Telefonat mit dem unbekannten Anrufer draußen vor dem Restaurant hatte nur ein paar Minuten gedauert. Es waren wenige Worte, die Pauls solide konstruiertes emotionales Gerüst völlig zum Einsturz brachten.
Als hätte man ihm eine komplexe Mischung verschiedenster, auf sein Bewusstsein einwirkender Drogen in die Venen gepumpt, die nun um die Vorherrschaft kämpfend nach und nach die Kontrolle über seinen Verstand übernahmen. Kalte und heiße Wellen schoben sich korrelierend und taktlos durch seinen Körper.
In seinem Kopf verrührte sich alles zu einer breiigen Masse. Seine Wahrnehmung, trübe. Es schien ihm, als würde er fallen. Beine und Hosen hasteten in Schuhe gestopft auf Augenhöhe an ihm vorbei, als läge er auf dem Boden im Dreck. Regungslos suchte er Halt an etwas oder jemanden. Versuchte zu verstehen und schien dabei mehr und mehr hinabzusinken, ohne einen Muskel zu bewegen. Sein Atem umgab ihn wie dichter Nebel, der langsam wabend seinen Kopf zu umhüllen schien. Wie unter einer Gloche wurden Geräusche zu stumpfen Lauten, die er nichts Konkretem zuordnen konnte. Es stach in seinem Kopf wie unter einem Anfall schwerer Migräne, während ein unablässiger Druck sich auf seinem Brustkorb breit gemacht hatte, der ihn an seine Schulzeit erinnerte, wenn sich die dumme Sau Ralf mal wieder auf ihn gesetzt hatte und er sich in Panik mit aller Kraft dagegen wehrte. Die dumme Sau Ralf. Der Gedanke an ihn war sein Anker. An ihm zog er sich aus diesen Wirrungen heraus. Mit aller Kraft, die er aufzubringen noch in der Lage war.

‘Du kannst auch gar nichts ernst nehmen’, hatte man Paul schon häufiger nachgesagt. Daran dachte er nun, während er noch wie benommen an seinen Tisch zurückkehrte. Das Eigelb hatte bereits einen trockenen Film auf dem Teller gebildet, als er wortlos die Rechnung zahlte und das Lokal verließ. Begleitet von nicht länger unterdrückbaren Tränen.

Das Telefonat mit seinem Vater tags zuvor schoss ihm durch den Kopf. Nun in einem neuen Gewand, das sich wie ein dünnes Tuch über seine Erinnerungen daran gelegt hatte. Selbst die Farben schienen ihre Fröhlichkeit abgelegt zu haben. Immer wieder wiederholte er ihr letztes Gespräch im Geiste. Seine eigenen Worte, blöde witzelnd und die Stimme seines Vaters, die mitlachte. Verhalten zwar. Aus Sympathie?
Dann war da noch der letzte Satz seines Vaters. Beinahe unangenehm kam er ihm vor. Erschien ihm wie geleitet von plötzlich aufkommenden väterlichen Gefühlen. Heute, nach der Nachricht seines Todes, waren es die letzten an ihn gerichteten Worte. 

Nach den ersten Stunden schaltete sich etwas bei ihm ein, das man wohl als eine Art rationale Überkompensation seines Verlustes bezeichnen konnte. 
‘Wie und was als Nächstes? Wer weiß was und woher alle notwendigen Informationen bekommen? Gibt es da was online?’
Er brauchte eine Liste. Am besten eine mit kleinen Kästchen zum Abhaken. ‘Ja, das wäre sinnvoll. Wie hieß noch gleich diese scheiß App?’
Er nutzte diesen Anflug von Selbstbeherrschung, um den Übermittler der Nachricht, den Stationsarzt, zurückzurufen und holte sich alle Informationen, die er im ersten Telefonat abgewürgt hatte.
“Keine Obduktion. Nein, er wolle ihn nicht nochmal sehen. Für die Tasche, ja für die Tasche, würde er in den nächsten Tagen vorbeikommen. Termin mit dem Bestatter? Nein, noch nicht!’ War das der Abspann? Er sah den Stationsarzt im Geiste vor sich. Ebenfalls mit einer Liste mit kleinen Kästchen. Punkte, die zur juristischen Absicherung vorgeben, mit den Angehörigen zu besprechen sind. Unten links Platz für Stempel, Datum und Unterschrift.

Der darauffolgende Tag war ein bewegtes Auf und Ab, ein hin und her, zwischen tiefer Trauer, wutgeladenen Gefühlsausbrüchen und rationalen Gedanken, die Organisation der nächsten Schritte betreffend. Immer wieder überfahren vom Zurückrufen und Festhalten der Erinnerungen an seinen Vater. Aus Angst, zu schnell zu vergessen. Sein Gesicht, der Geruch seiner Wohnung, die Art wie er dies oder jenes tat. Seine Stimme. Man glaubt, man vergisst nicht schnell. Doch erinnert man sich nur an das oberflächlich Wahrgenommene. So gleicht die Erinnerung eher einem Hauch als etwas Greifbaren. Einer Wolke, die schon im nächsten Augenblick eine andere Form annimmt. Ein Foto. Eine Abbildung einer Situation, deren Eindrücke sich mit jedem Aufleben der Erinnerung verschieben, bis sie nur noch ein Wunsch sind. Ein Glaube an ein Gefühl, unter den emotionalen Einflüssen der Zeit. Eine Fiktion der Vergangenheit. War diese tiefe Lachfalte unter dem rechten oder linken Auge? Das Runzeln seiner Stirn. Er wird niemals wieder lachen. Ein letztes Räuspern, sich schnell wieder ins Gedächtnis rufen. Schnell, schnell, man muss sich beeilen, bevor alles unwiederbringlich überspielt wird, wie eines dieser alten Mixtapes, die man vergessen hatte zu beschriften, auf der nun anstelle seiner Lieblingssongs, die Aufnahme einer schlechten Radiosendung läuft.

Paul dachte an Himbeeren. Schon der bloße Geruch an eine reife Frucht mit ihren leicht haarigen aufgeplusterten Kämmerchen ließ ihn eine Zeitreise unternehmen. Sein Vater, in kurzen Turnhosen und einen Stoffbeutel um das Handgelenk gewickelt. Ein Bein fest am Boden, das andere zur Hälfte in einem dornigen Gestrüpp vergraben, nach der einen dicken Himbeere greifend, die vor Sonnenreife beinahe zu platzen schien, um sie ihm in die Hand zu legen.

„Mach so weiter“ war der letzte an ihn gerichtete Satz, bevor sie beide das Telefonat mit einem “Tschüss” beendet hatten.

Sein Vater saß, bekleidet mit einem Bademantel, auf dem Flur des Krankenhauses, in der linken Hand die metallene Stange des Infusionsständers, sein Telefon in der rechten, an dessen anderen Ende der Leitung gerade sein Sohn ein letztes Mal das Gespräch mit ihm beendet hatte. Der Sohn, den er nie wieder sehen würde. Dem er nun nichts mehr mit auf den Weg geben konnte. Nicht würde sehen können, ob er glücklich werden würde. 
Er hatte seinen Blick auf den verschlissenen Linoleumboden geheftet, in dem er nach Antworten bohrte und nach Erinnerungen suchte. 
Er dachte an die Kindheit seines Sohnes. Erziehung? Versucht hatte er es. In einer Zeit, in der für ihn alles kippte, wankte und schwankte. Die Welt um ihn neu modelliert wurde. Zu versuchen, so wenig wie möglich falsch zu machen, ist wohl das einzig Richtige, was man tun kann. 
Wird es gereicht haben, damit er sich durch das Chaos dieser Welt navigieren kann? Sicher, kann sein. Das Ergebnis bleibt ihm als sein Vater wohl vorenthalten. 
Er würde ihn nicht älter werden sehen. Zumindest das hatten nun beide gemeinsam.
Der Geruch von vergorenem Obst kitzelte sein Gedächtnis. Sein rechtes Auge zuckte im Moment der Erinnerung. Szenen, die lang zurücklagen, liefen vor seinem geistigen Auge ab, wie eine Aneinanderreihung von Bildern aus einem Diaprojektor, an den Boden zu seinen Füßen projiziert. Hochsommerliche Szenen im Garten, in den Pilzen, im Wohnzimmer bei Nüssen und Mandarinen. Ärger mit Mathematik und Spaziergänge am Waldrand im Beerengestrüpp. Im Freibad und die Einschulung. Schlittenfahren und erste Geburtstage. Ein Tropfen schlug auf einem der letzten Bilder ein und warf kreisförmige Wellen, bis das graue Linoleum in seiner glänzend polierten Traurigkeit wieder das einzige war, was er vor seinen Augen wahrnahm. 
Er schlurfte zurück ins Zimmer und legte sich in sein Bett, mit den einhundertundeins Möglichkeiten, die Liegeposition zu ändern. Ein Bein aus dem Bett baumelnd, den Blick in Richtung Fenster gerichtet, kroch eine letzte Träne aus seinem Auge über seine greise Haut, mit den wenigen verbliebenen weißen Stoppeln und legte sich glitzernd und feucht auf seine Wange. 

Nach dem Frühstück wollte Paul raus zum Krankenhaus fahren, um die Tasche seines Vaters zu holen. Er starrte an die weiße, mit gelblichen Fettspritzern übersäte Wand hinter dem Herd seiner Küche. War in der Stimme seines Vaters etwa Trauer hörbar gewesen? Angst vor dem, was ihm bevorstand und dem, was er hinterlassen würde? Warum hatte er…? Es war Sinnlos, darüber nachzudenken. Aber, ein Zittern der Unterlippe vielleicht, dass er hätte hören können? Als sein nächster Verwandter sogar hätte spüren müssen? Je häufiger er über die letzten Worte seines Vaters nachdachte, umso schwerer wurden sie. Sie drückten ihn unter, in sich überschlagenden Wellen, wie über ein Stück Treibholz auf offenem Meer und hinterließen ihn schwankend und wirr.

Das Eiweiß gerann spritzend im zu heiß gewordenen Fett, in das er es gesetzt hatte. Er schob die Pfanne ein Stück auf die Arbeitsfläche und ließ das Eigelb sanft in das Zentrum des Eiweiß’ gleiten. In der Mitte noch klar und viskos, am Rand löchrig und aufgeplatzt wie eine asphaltierte Gebirgsstraße nach einem langen Winter.
‘Unbarmherzigkeit’ kreiste als Gedanke durch seinen Kopf. Keine 66 Jahre war sein Vater geworden. Die Zeit rückt stetig voran, unaufhaltsam wie die Flut, deren Wassermassen sich durch einen Damm gebrochen haben, sich nun in Stille alles holt. Die sich unbemerkt über alles legt. Sanft, wie eine samtene Decke, die einem zärtlich über das Haupt gegeben wird, alles erstickend mit einer chloroformen Brutalität, der man sich machtlos ergeben muss.  ‘Noch 39 Jahre,’ dachte Paul, würde er so alt werden wie sein Vater. Und auch das war nicht gewiss.
Das Eigelb floss wie Honig auf der milchigen Oberfläche dahin und begann allmählich zu stocken. Die Gedanken an seinen Vater lähmten ihn für einen Moment. 

Er stellte sich vor, wie sein Vater in der Nacht wie von fremder Hand geschüttelt plötzlich erwachte. Nach Atem und Leben ringend. Verkrampft in einem letzten, den Körper durchzuckenden Kampf, gegen den unvermeidbaren, unablässig über jedes seiner morbiden Organe herfallenden, Tod. Ein multipler Abgesang eines Körpers, der sich den Geschwüren des Ablebens nicht länger zu widersetzen vermochte. 
Das beklagenswerte Abendessen noch auf dem Nachttisch. Eine halbe Scheibe dunkles Brot mit weicher Rinde, eine leere Portionspackung Margarine. Die abgewickelte Plastikfolie, unter der auf einem Teller eine halbe Scheibe Käse und eine Scheibe Cervelatwurst lagen. Ein paar Krümel einer weißen Kaisersemmel, die er selbst so gehasst und früher immer nur für Paul gekauft hatte. Auf dem grau melierten Tablett das Messer, an dessen Spitze noch etwas Margarine klebte und ein Apfelschnitz, der oxidierend dahinwelgte.

Paul schob die Pfanne zurück auf den Herd, verrührte das Geronnene mit dem Weichen des Eis zu einem Geflecht aus verschiedenen Weiß- und Gelbtönen, die nicht ineinander übergehen wollten. Dann wartete er, bis es fest und trocken war, warf eine Handvoll Salz darauf und schmiss die Pfanne in einem Anflug von Trauer und Wut in das Spülbecken neben der Arbeitsfläche, in dem sie krachend landete und zischend im Wasser zur Ruhe kam.
Wie eingefroren blieb er kurzatmig in seiner Position gefangen. Seinem bebenden Unterkiefer nichts mehr entgegenzusetzen, während der Herd langsam vor ihm verschwamm und verständnislos anpiepste.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s